Festrede von Univ. Prof. Dr. Wilhelm Hübner anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der WTV (12. März 2017)

Das Orchester – Spiegelbild unserer Gesellschaft

Der leider im Vorjahr verstorbene Alexander Giese, österreichischer Schriftsteller und langjähriger Präsident des Österreichischen P.E.N.-Clubs, hat unter vielen anderem ein sehr schönes Buch geschrieben – „reich ohne Geld“, ein Buch voller Lebensweisheiten. Wenn sich die Mitglieder der WTV einmal wöchentlich, und in manchen Wochen sogar mehrmals pro Woche treffen, so tun sie dies, um ihren Reichtum zu genießen. Jeder Musiker weiß was ich meine, dieses Privileg, den Reichtum, dass wir indem wir gemeinsam musizieren in eine gehobene, glücklichere Stimmung geraten.

Musik spricht unsere Instinkte, Gefühle oder auch den Intellekt an, und das schöne dabei ist, dass dabei ein permanenter Austausch von Gefühlen und Energien stattfindet - mehr, oder doch zumindest komplexer als es uns mit Worten möglich wäre. Das bedeutet ein dauerndes Geben und Nehmen: wir Musiker untereinander, aber auch mit dem Publikum – das gibt uns immerhin seine Aufmerksamkeit (hoffentlich jedenfalls).

G&N sind die Ur-Gesten des menschlichen Zusammenlebens, die Grundlage unserer Gesellschaft, es handelt sich also bei unserem musikalischen Tun um Menschlichkeit im engsten Sinn. Der Mensch ist ein in Gemeinschaft lebendes Wesen, und diese Gemeinschaft entfaltet sich hier besonders stark. Die sozialen Knotenpunkte des Gebens und Nehmens beginnen bei der Muttermilch und reichen über Rat und Tat bis hin zu Bildung und Ausbildung - von der Gesundheitsversorgung bis hin zum Generationenvertrag, alles zwischenmenschliches G&N.  Das sichert den Fortbestand unserer Gesellschaft - Geben und Nehmen von Werten und Inhalten und Gefühlen.

Orchester und Chor sind das direkte Abbild oder auch der Spiegel unserer Gesellschaft, in ihrer Mannigfaltigkeit und Komplexität. Wir haben Dicke und Dünne, Junge und Ältere, Talentierte und weniger Talentierte im Orchester - auch noch Streicher und Bläser. Wir sind tatsächlich ein Sample oder Extrakt unserer Sozialgesellschaft - mit entsprechenden Interaktionen, und jeder von uns findet sich in der Rolle des Gebens und Nehmens zugleich.

 Zurück zu unserem Reichtum – woher kommt er nun? Erstens finden wir als Zoon Politikon, als Gemeinschaftswesen, unsere Grundbestimmung in der Musikergemeinschaft, und zweitens, noch wichtiger, wir dürfen uns hier ausdrücken, dürfen uns selbst darstellen in unserer künstlerischen Identität, selbst wenn wir das im Rahmen des gemeinsamen Musizierens koordiniert und kontrolliert tun sollten – im Übrigen ist das auch die große Faszination der Kammermusik. Die reizvolle Spannung zwischen Individualismus und Gemeinschaft bzw dem gemeinsamen Ziel. Unsere WTV gibt uns jedenfalls mit ihrer Infrastruktur eine Ebene zur Selbstfindung und Selbstdarstellung.

Womit wir bei unserem so lieb gewonnenen Jubilar angekommen sind, der WTV. Diesem besonderen Klangkörper bestehend aus Orchester und Chor - meines Wissens eine ziemlich einmalige Konstellation. Meine erste Erfahrung mit der WTV geht zurück in das Jahr 1984, als ich zum ersten Mal hier mitspielen durfte. Voller Hunger, Ambition und jugendlichem Übermut bin ich eingestiegen. Neben den für mich wichtigen musikalischen Begegnungen mit F.J. Breznik, der unheimlichen Schwung und guten „Schmäh“ verbreitet hat, und Norbert Pfaffelmeier, den ich später als den faszinierenden Mozart-Experten und Enthusiasten und hochprofessionellen Klanggestalter und Interpreten kennengelernt habe, konnte ich erleben, wie Othmar Nagl und seine Familie dieses Projekt mit größter Konsequenz, und noch viel wichtiger, mit beeindruckendem Idealismus verfolgt und vorangetrieben haben. Sein Format, sein „Erhabensein“ über Eitelkeiten und Kleinlichkeiten mit Blick auf das Gesamtprojekt sind für mich zum Vorbild geworden – danach hat sich Hermann Reiter diese großen Schuhe angezogen und sie passen ihm wie angegossen.

Meine persönliche musikalische Laufbahn hat fraglos hier ihren Anfang genommen - als ich hier Christian Glüxam (als Solist) kennengelernt habe und mit ihm das Paracelsusquartett gegründet habe. Es hat immerhin von 1985 bis 2015 – also geschlagene 30a - existiert - mit 9 CDs, Auslandsreisen bis nach Paris und London, mit musikalischen Erlebnissen, die ich nie vergessen werde. Das Festhalten an einer Vision, das „yes we can“, das ich hier von den Nagls erlebt habe, war definitiv eine Starthilfe, und hat mich später auch zur Gründung des ConAnima Festivals ermutigt, das 1998 gemeinsam mit Christian Altenburger ins Leben gerufen wurde - manche von euch haben es ja schon erlebt. Es ist also nicht übertrieben, wenn ich heute sage, mein musikalisches Leben verdanke ich zum großen Teil der WTV. Dafür euch allen vielen Dank.

Es muss nun nicht jeder hier zu so einem Musikfreak werden, wie ich, aber ich glaube fast alle hier haben der WTV mehr oder weniger viel zu verdanken - alle werden freundlich aufgenommen, der/die eine oder andere sogar aufgefangen, wenn andere Umfelder weniger freundlich sind. Dem Musikenthusiasten bietet die WTV nach und nach Heimat, im Kapitelsaal oder Konzertsaal werden wir Teil dieser Musikergemeinschaft - von den Kollegen als Individuum erkannt, anerkannt und auch angenommen! Und das gilt in der WTV mit leichtem Schmunzeln auch für sogenannte Pausenpaganinis, spezielle Bogenstrichexperten und Akkord-besonders lang-Aushalter..., auch ihnen wird letztlich mit Toleranz begegnet. Wir finden hier eine Werteskala, die eine Orientierung aus musikalischem Anspruch und sozialer Kompetenz darstellt, ohne dass es dabei einen Widerspruch gäbe.

Apropos musikalischer Anspruch:

Nikolaus Harnoncourt hat einen berühmten Ausspruch getan. „Es ist eine Gratwanderung zwischen Perfektion und schöner Musik“ - er hat immer wieder betont, dass es ganz kurz vor dem Absturz am schönsten sei...er sagte: „Ich danke jedem Musiker, der das Risiko eines Kiksers im Dienste einer Kunst in Kauf nimmt, die emotionelle Resonanz auslöst“.

Wir stehen heute oft vor dem Gegensatz einer defensiv orientierten, auf Fehlervermeidung bedachten Interpretation und einer Musik der offensiven Interpretation, mit Mut zum Risiko. Wenn es vielen von uns so geht, dass wir an Interpretationen aus den 50er-, 70er- oder 80er-Jahren plötzlich verweilen, berührt sind von der Kraft der Interpretation, dann nehmen wir den einen oder anderen nicht 100 %ig exakten Einsatz oder einen unscharfen Akkord gern in Kauf. Andererseits hören wir heute CDs oder auch Konzerte, die in ihrer defensiven Ausrichtung zwar perfekt ablaufen, aber Mutlosigkeit vermitteln, und einen öfters nur wenig berühren.

Ich möchte um Himmels willen nicht zu sehr verallgemeinern, wunderbare Ausnahmen bestätigen ja die Regel, aber auch die Filmaufnahmen der früheren Konzerte spiegeln eine andere Gestik der Orchestermusiker wider, Freiheit in der Bewegung, Einsatz, Mut zum Risiko, um sich auszudrücken. Dieser Eindruck ist nicht subjektiv - von mehreren Professoren der Wr. Musikakademie und von renommierten Orchestermusikern wurde dieses defensive Fehlervermeidungsverhalten schon bedauert.

Wie schon erwähnt kann man ein Orchester in seine Komplexität ja als kleines aber repräsentatives Sample unserer Gesellschaft betrachten, und damit fürchte ich, dass unsere Gesellschaft ganz allgemein in diese Defensivsituation geraten ist - wir hoffen in erster Linie, dass es nicht schlechter werden möge, eine von Fehlerängsten gelähmte Politik ist handlungsunfähig geworden. Das ist ein großer Gegensatz zu der Nachkriegssituation der 50er- und 60er-Jahre, als es nur besser werden konnte und man optimistisch in die Zukunft blicken konnte.

Wir laufen jetzt nicht Gefahr, vor lauter Perfektion die Musik zu vergessen. Aber im Ernst, unser Klangcharakter spiegelt immer wieder die Freude der Musizierenden wider. Wir sind eben ein Ensemble aus Dilettanten, und man muss dabei wissen, dass dieses Wort niemals abwertend gemeint war, sondern nur Musiker bezeichnet hat, die vom Musizieren nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen.

Ein Dilettant ( lateinisch delectare „sich erfreuen“, „ergötzen“) ist ein Liebhaber einer Kunst, der eine Sache um ihrer selbst willen ausübt, also aus Interesse, Vergnügen oder Leidenschaft – keineswegs nötigerweise ein Nichtskönner! Und diese Freude verbindet und inspiriert. Dass dieser Klangkörper schon so lange existiert, so viel Inspiration und Freude gespendet hat, ist als besondere Leistung bzw. als Bestätigung eines Konzeptes zu werten.

Die Verantwortung für diese besondere Atmosphäre haben in erster Linie die Führungsverantwortlichen, aber in gewissem Ausmaß auch wir alle, jeder einzelne Musiker. Wir haben die Verantwortung dafür, dass Diskussionen über Programme, Probenlokale, Notenmaterial, Striche und Interpretationen zwar mit dem angebrachten Enthusiasmus und Engagement, aber niemals destruktiv geführt werden.  Ich selbst habe größten Respekt vor einer Aufgabe wie dieser, die WTV über Jahrzehnte prosperierend zu führen. Bei der Größe dieses Apparates ist es unmöglich, dass immer alle mit allen Entscheidungen zufrieden sind, es gilt daher bei jeder Kritik auch Lösungsvorschläge parat zu haben, lieber gute Antworten als schlechte Fragen! Es muss schließlich ein gemeinsamer Nenner gefunden werden. Will man der WTV etwas Gutes tun, muss man versuchen, selbst eher Teil der Lösungen und nicht Teil der Probleme zu sein.

Wenn wir nun von der Vergangenheit ausgehend in die Zukunft blicken, so sehen wir 3 Säulen, auf denen das Geschick der WTV geruht hat und weiterhin ruhen wird: musikalisches Profil und musikalische Ambition, wirtschaftliche Stabilität und soziale Attraktivität. Dirigenten sind gekommen und gegangen, wie bei anderen Orchestern auch, aber das musikalische Profil samt Zielvorstellungen muss in der WTV selbst verankert sein. Wirtschaftliche Stabilität und soziale Attraktivität hängen insofern zusammen, als die Wohlfühlkomponente sowie das damit verbundene Engagement der Mitglieder die allgemeine Motivation steigern. Und hohe Motivation der Beteiligten ist unbestritten auch ein ökonomischer Erfolgsfaktor. Die Entwicklung in Richtung einer 2/3 Gesellschaft wird solche Initiativen wie die WTV noch zusätzlich aufwerten.

Ich glaube, die WTV ist eine so wertvolle Institution, dass es sich auszahlt, Kraft und Empathie zu investieren. Ich denke, wir dürfen stolz darauf sein, Teil dieser Institution zu sein, die in ihrem Charakter weit über einen einfachen „Musizierverein“ hinausgeht.

Einem Jubilar wünscht man an dieser Stelle noch viele erfolgreiche und gesunde Jahre – das möchte ich hier auch tun. Ich habe hier ein sehr gutes Gefühl, dass die WTV künftigen Herausforderungen gewachsen sein wird, mit unseren gemeinsamen Anstrengungen. Ich freue mich auf eine abwechslungsreiche und erfolgreiche Zukunft der WTV.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.